Leseprobe

Steig ein ins Buch!

 

 

 

Roman mit Todesfolge

 

Leberechts erster Mord

 

Michael Kothe

 

Kriminalroman

 

telegonos-publishing

 

 

Prolog

 

Rauch. Rauch, der seine Lungen verätzte, und Qualm, der in seinen Augen brannte. Dazu diffuser Lärm, Schreie nicht in seiner Muttersprache. Aber an das nächtliche Geschrei und an das Jammern hatte er sich gewöhnt. Folter war zwar nicht an der Tagesordnung, aber ebenso wenig ausgeschlossen. Nur der Rauch, der passte nicht zu seinem Traum, er war zu körperlich, zu real. Also wachte er auf.

   Weder verzog sich der Rauch, noch verstummten die Rufe. Langsam kehrten seine übrigen Sinne zurück. Er schmeckte verbranntes Gummi und öligen Dampf, aus dem Geplärre hörte er hektische Tritte heraus, das Quietschen ungefetteter Scharniere, das Nachfedern eiserner Gitter beim Zuschlagen und vereinzelte Schüsse. Dumpf drängte sich seinem Gehör das Prasseln von Flammen auf, und endlich, endlich klärte sich sein Blick. Er erkannte seine Zelle, graue, stinkende Schwaden zogen durch das Gitter vom Korridor quer durch den kleinen Raum und verwehten draußen vor dem winzigen, hoch oben in die Wand gehauenen Fensterloch. Er war allein, die drei Betten über und gegenüber von seinem waren leer, die Zellentür stand offen. Noch schlaftrunken drehte er sich zur Bettkante, suchte mit den Zehen seine Schnürschuhe ohne Schuhbänder, denn die hatte man ihm vor Ewigkeiten bei seiner Inhaftierung abgenommen, und schlüpfte hinein. Schritte und Schreie wurden leiser, sie entfernten sich in Richtung des Gebäudeflügels, aus dem das Prasseln von Feuer, die Schüsse und unverständliche Rufe herüberdrangen. Ihm schien es, als würde der Rauch sich verdichten. Er musste hier weg!

   Ein kurzer Rundumblick genügte ihm, um anzuzeigen, dass er nichts mitzunehmen brauchte, ja, nichts hatte, das er hätte mitnehmen können. Einzig das Taschenbuch kam ihm in den Sinn, daran lag ihm viel.

   Ausgerechnet hier in einem lateinamerikanischen Land hatte er es in der Gefängnis­bibliothek gefunden. Zwei Tatsachen hatten ihn zuerst überrascht und dann fasziniert, bevor er eine dritte erkannte. Erstens bestand die gesamte Gefängnisbücherei aus einem einzigen Aktenbock auf Rollen, und zweitens stand darauf zwischen die Bücher in spanischer Sprache gequetscht genau dieses eine auf Deutsch. Mehr aus einer Laune heraus hatte er es gegriffen, die Absicht, es zu lesen, drängte sich ihm erst auf, als er den Einband aufgeklappt hatte. Spontan weckte das Schwarzweißporträt der Schriftstellerin Erinnerungen. Mit dem Zeige­finger fuhr er darüber, zog Kreise um das Gesicht. Es waren Erinnerungen an seine Schulzeit. Erst vage, dann immer dichter. Ein Pseudonym konnte lügen, sollte es sogar, denn das war sein Zweck. Ein Foto aber, genauer gesagt dieses Foto, war untrüglich: Frieda … Frieda Deutsch, seine ehemalige Klassenkameradin und seine erste Liebe. Seine Gefühle hatte er ihr nie offenbart.

Er vergewisserte sich, dass die losen Blätter, beschrieben in seiner Handschrift – erste Seiten eines Manuskripts, seines eigenen – nicht aus dem Einband herausfallen konnten, und ließ das Buch in die Tasche seiner Cargohose gleiten. Hastig verließ er die Zelle, die er die letzten Jahre über als sein Heim zu bezeichnen gezwungen war.

   Vom Treppenhaus her, in dem die Stimmen und das Getrappel nach unten hin verstummten, quoll ihm dichter werdender Rauch entgegen. Er hustete, wurde sich klar darüber, dass er dort weder atmen noch bei der Sichtweite einer Unterarmlänge die Orientierung behalten könnte. Zum entgegengesetzten Flurende hin machte er keine Hindernisse aus, zumindest nicht bis zur Feuerschutztür. Er betete, dass sie nicht von außen durch abgestellte Möbel oder aufgetürmte Akten versperrt sei, und hastete der erwarteten Rettung entgegen. Den Schmerz in seiner Schulter ignorierte er. Wichtiger war, dass sein Körpergewicht immer noch ausreichte, erfolgreich gegen das stählerne Türblatt und den Türschließer anzukämpfen und die Tür öffnen zu können.

Ein Stockwerk tiefer bot sich ihm das gleiche Bild wie auf seiner Etage. Ein Stöhnen ließ ihn verharren, und als er die Stimme erkannte, siegte sein Verantwortungs­gefühl über den Fluchtinstinkt.

   Echte Freundschaft war in diesen Mauern kaum zu Hause, aber Kameradschaft, wenn auch meist zweckgebunden, ließ einen das Leben leichter ertragen. Er ballte die Fäuste, als er sah, dass die Gefangenen auf ihrer Flucht nicht nur ihn, sondern auch den zweiten Deutschen seinem Verhängnis überlassen hatten, seinen einzigen Freund in dieser Hölle. Der lag in seiner Zelle und starrte reglos das Bettgestell über sich an. Als er eine Bewegung bemerkte, drehte er den Kopf und lächelte den Ankömmling an, der sich zu ihm herabbeugte und ihm die Arme entgegenstreckte.

   »Häng dich auf meine Schultern, ich schleppe dich hier raus.«

   »Vergiss es, mein Freund!« Sein Lachen ging in einem Husten unter, ein Faden blutigen Speichels löste sich langsam aus seinem Mundwinkel und sackte aufs Kissen. »Es ist zu spät. Lass mich, es ist mir eine Genugtuung, diese Hölle brennen zu sehen. Mit diesem Bild vor Augen verlasse ich die Welt gern.« Ein schleimiger Husten bäumte ihn zwei-, dreimal auf, in seinen Speichel mischte sich mehr und mehr Blut. »Du sieh zu, dass du Land gewinnst! Vorher, vorher aber muss ich dir etwas geben.« Mit der Rechten öffnete er seinen Hosenbund und nestelte an seinem Unterleib. Als er die Hand hervorzog, streckte er sie seinem Besucher hin. Seine Stimme war stockend, wohl gleichermaßen dem Bluthusten wie auch einem Lachanfall geschuldet. »Da haben sie ... da haben sie nie gesucht. Zim.., Zimmer 115. Pension Esplanade. Unter ... dem Bett ist eine Kassette ... eingelassen. Es ist nur ein kleiner Dank dafür, wie du mir in deinen zwei Jahren hier geholfen hast. Wem sonst sollte ich es auch geben? Und nun geh!«

   Länger als nötig drückte der Besucher dem Sterbenden die Hand. Dass er gegen die Lungenkrankheit, der sich nun die Rauchvergiftung hinzugesellen würde, nichts tun konnte, wusste er schon seit einiger Zeit. So zog er den Abschied lediglich ein wenig hinaus, bis die erschlaffte Hand einen winzigen Schlüssel freigab, der an zwei handlangen geflochtenen Kordeln hing. Deren Farbe glich der Haarfarbe des Toten, über diese Entdeckung wollte er sich aber keine Gedanken machen. So senkte er kurz den Blick in Erinnerung an einige gemeinsame Erlebnisse und drückte dann dem Toten die Augen zu.

   Der Weg aus dem Gefängnis führte ihn in den Flügel, in dem die Gefängnisverwaltung residierte. Offensichtlich war er nicht der Erste, der sich hier Zugang verschafft hatte. Blutspuren führten zur gegenüberliegenden Tür hinaus, Einschusslöcher in den Wänden und umgestürzte Möbel zeugten davon, dass Wärter und Personal der Revolte nicht gewachsen gewesen waren. In Zustimmung für die Absicht seiner Mitgefangenen, diese Hölle in Flammen zu setzen, lachte er grimmig. Auf den am Boden aufgehäuften Polstern zerstörter Schreibtischstühle tänzelten Flammen, als suchten sie in bewusster Absicht einen Weg zu dem hölzernen Mobiliar daneben. Eilig stieg er über angekohlte Ordner und einzelne Blätter, getrieben von der plötzlichen Eingebung, in einem der Schränke vielleicht seine Akte zu finden. Was er damit hätte anstellen wollen, war ihm selbst nicht klar. Sie mitnehmen? Oder sie vernichten, damit er nach einer Flucht nicht zur Fahndung ausgeschrieben werden konnte? Während er nacheinander die Schubladen des blechernen Aktenschrankes aufzog und die Hängeregister durchwühlte, schnüffelte er daran. Zweifels­ohne hatte sich der Brandgeruch auch hier festgesetzt, intensiver wehte er aber nun durch die Tür herein, durch die er gekommen war. Er schaute sich um. An den Wänden des Korridors waberte Flammenschein. Seine Suche musste er aufgeben, wieder musste er weg. Die Tür, durch die das Aufsichts- und Verwaltungspersonal geflohen war, stand offen. Sein Weg in die Freiheit, denn noch war der Qualm nicht so dicht, dass er gänzlich die Sicht genommen hätte. Fast hatte er die Tür erreicht, als er strauchelte. Mit dem Ellbogen fing er seinen Sturz an einem Schreibtisch ab, sein Blick suchte auf dem Boden das Hindernis. Auf einem Stapel von vier, fünf postkartengroßen, dünnen Büchern war er ausgerutscht. Er grinste, als habe er dem Gefängnisdirektor persönlich einen Schatz abgejagt. Instinktiv ging er in die Hocke, sammelte die Reisepässe ein und stopfte sie in die Seitentasche seiner Hose. Neben dem Taschenbuch trugen sie nicht weiter auf.

 

Das Esplanade war eine abgewohnte Absteige in einem heruntergekommenen Viertel. Mehr Neugierde als Überzeugung hatte ihn hierher getrieben. Die Zwanzigdollarnote, gefunden im Büro der Gefängnisverwaltung, war das Einzige, was er außer dem Buch und den Pässen mitgenommen hatte. Als Kaution für einen Zimmerschlüssel in diesem Etablissement schien sie ihm überzogen, aber er hatte nicht im Voraus zu bezahlen, und immer noch konnte er sich auf Französisch empfehlen. Das Bett hatte er zur Seite gewuchtet – immer drei Seiten hochgestemmt und lautlos auf dem letzten Bettpfosten gedreht – und tatsächlich beim Abklopfen der Holzdielen einen Hohlraum erkannt. Dass er mit dem Flaschenöffner, den er in der Schublade des Nachttisches gefunden hatte, die Diele beim Heraushebeln ziemlich ramponierte, interessierte ihn nicht. Die Kassette gab es wirklich, der Schlüssel passte, und nun saß er auf dem Bett und zählte Geldscheine der US-Notenbank, der Bank of England und der Europäischen Zentralbank. So fand er im Nachhinein, dass seine zwanzig Dollar an der Rezeption eine verdammt gute Investition gewesen waren. Das Taschenbuch in seiner Hosentasche tauschte er gegen die Banknoten, stieg die Treppe hinab, grinste überheblich den selbsternannten Empfangschef an und überquerte die Straße zur schräg gegenüber liegenden Cantina. Als er es sich später mit einer Flasche Wermut, wenn auch nicht mit seiner Lieblingsmarke – aber wer denkt in diesem Land schon so weit? –, und einem Glas, das er unbemerkt von einem Tisch im Außenbereich der Cantina gegriffen hatte, auf dem Bett gemütlich machte, kam ihm ein Gedanke. Er holte die Pässe hervor und begann zu blättern. Ihn schauderte. Der zweite Pass hatte dem einzigen Freund gehört, den er im Gefängnis gehabt hatte und in dessen früherem Pensionszimmer er nun saß: Gottfried Liebknecht.

 

»Bitte, Señor. Schauen Sie noch einmal nach, ob alle Daten richtig sind!«

   Er blätterte in dem neuen Reisepass, fand sämtliche Angaben zu seiner Zufriedenheit und schenkte seinem Gegenüber ein bestätigendes Nicken. Unter den übrigen Dokumenten entdeckte er eine Urkunde, die ihm seine Begnadigung bescheinigte, wenn auch seine Freiheit eher mit dem Abbrennen des Gefängnisses und mit der darauf folgenden Amnestie wegen fehlender Unterbringung als mit einer Entlastung vom vorgeworfenen Drogendelikt begründet wurde. Für ihn war es unwichtig.

   »Soll ich die Gebühren bei Ihrem Sekretär bezahlen oder möchten Sie selbst …«

   »Das Geld nehme ich lieber selber. Sie können sich vorstellen, wie schwierig es auch für mich ist, wirklich ehrliches Personal zu bekommen. Und bei dieser Summe …«

   »Das verstehe ich vollkommen. Schließlich hatten in der letzten Zeit in meinem Umfeld die wenigsten eine reine Weste.« Mit einem breiten Grinsen schob er ein Bündel Dollarnoten über den Schreibtisch.

   Sofort legte sein Gegenüber die Hand darauf und wischte das Geld hastig in die rasch geöffnete Schublade. Gerade so, als befürchtete er, von außen durchs Fenster beobachtet zu werden, oder als könnte sein unzuverlässiger Sekretär ins Zimmer stürmen und einen Anteil fordern.

   Beinah genauso eilig erhob sich nun der Gast, steckte die Ausweispapiere in die Innentasche seines Sakkos und verabschiedete sich nach einem kurzen Händedruck mit einer knappen Verbeugung. Bevor er die Türklinke niederdrückte, atmete er erleichtert auf. Alles ist gutgegangen. Entweder hat er meine „Korrekturen“ an dem angesengten Ausweis wirklich nicht bemerkt oder er hat sie nicht bemerken wollen. Egal, Hauptsache, die Papiere wirken echt. Neuer Name, neues Leben!

   Als ihm der Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland noch etwas nachrief, drehte er sich ein letztes Mal um. Erleichtert hörte er die Abschiedsworte. »Viel Glück für Ihre Zukunft, Señor Gotthilf Leberecht! Hasta la vista!«

 

 

 

 

Kapitel 1

 

»Guten Abend, Frau Nightingale! Ihr Buch und Ihre Lesung haben uns begeistert.«

Mit einer Autogrammstunde hatte die Bestsellerautorin ihre Lesung im Rahmen des diesjährigen Kulturprogramms ‚Rhyme & Crime‘ des städtischen Kulturamtes abgerundet. Das Geräusch des Stühlerückens verebbte, die Gespräche der Zuhörer flauten zu einem Murmeln nahe dem Ausgang ab. Gotthilf Leberecht und Ursula Haberkorn, seine Vermieterin, die ihn zum Besuch der Veranstaltung animiert hatte, hatten als letzte aus dem Publikum am Büchertisch zwei Romane gekauft. Sie das aktuelle Buch Nackenbeißer, aus dem Valentina Nightingale ihre Lesung abgehalten hatte. Er hatte ein älteres gewählt, wissend, dass er es nun doppelt besaß, aber sein erstes Exemplar war ausgelesen, und schon auf dem Aktenbock in Südamerika war es ziemlich unansehnlich gewesen. Als er den Titel nun auf dem kleinen Stapel wieder­entdeckte, konnte er sich nicht zurückhalten.

Als die Autorin ihm das Buch mit ihrer Widmung zurückreichte, umspülte ihn der aufgewirbelte Hauch ihres Parfüms mit einer zarten Note von Orangenblüten. Er hatte den Eindruck, sie hielte den Blickkontakt zu ihm länger als zu den anderen zuvor. Ihr Blick schien ein Erkennen auszudrücken, und so fühlte er sich ermuntert, seinen persönlichen Höhepunkt dieses Abends in der Stadthalle selbst zu gestalten.

 

Er begann mit einem Kompliment. Seine Glückwünsche ‚zu den stehenden Ovulationen der Zuhörer‘ ließen sie zusammen­zucken, riefen dann aber einen Lachkrampf hervor, in den Ursula Haberkorn einstimmte. Den Grund für ihre Heiterkeit verschwiegen ihm beide, aber seine Einladung auf einen Martini an der Bar nahmen sie ohne zu zögern an. Die Freude, neben gerade dieser Autorin zu sitzen und sich mit ihr auf einen Smalltalk einzulassen, ließ seine Hände feucht werden.

»Was machen Sie eigentlich beruflich?«

Seine Antwort gab er stockend, aber nach ihrer Entgegnung entspannte er sich.

»Privatdetektiv? Darüber müssen Sie mir unbedingt mehr erzählen! Ich suche dauernd prickelnde Ideen für meine Romane. Und eine Romanze zwischen einem Detektiv und seiner schönen und geheimnisvollen Auftraggeberin gibt sicherlich einen interessanten Konflikt ab.«

»Na ja, so geheimnisvoll sind meine Klienten im Allgemeinen nicht. Aber es sind spannende Fälle dabei. Ich erinnere mich …«

»Moment bitte! Nicht bewegen, bleiben Sie genau so sitzen! Je länger ich Sie betrachte, umso bekannter kommen Sie mir vor. Sie sind doch …«

Er erstarrte. Sie weiß, wer ich bin! Seine Liebe musste er ihr auch heute nicht gestehen, aber zusammen­­reißen musste er sich, um gleich kein falsches Wort zu sagen. Eine Katastrophe, wenn sie mich im Beisein der Haberkorn mit meinem richtigen Namen anspricht! Dann wird meine Vergangenheit aufgerollt mit all ihren dunklen Seiten.

»Jetzt weiß ich‘s wieder! Sie sind der Deutsche, der vor drei oder vier Jahren in Südamerika bei einer Gefängnisrevolte freikam, nachdem man ihn für ein Drogenvergehen eingesperrt hatte. Stimmt‘s? Das brachten alle Nachrichten.«

Ihre Stimme kam ihm eine Nuance zu schrill vor. Erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus. Sie hat mich nicht erkannt! »Ein gutes Gedächtnis haben Sie. Obwohl ich zu Unrecht verdächtigt und verurteilt worden war, hat mir die Amnesie vieles leichter gemacht.«

»Wie, die ganze Aufregung mit den vielen Toten haben Sie vergessen? Ich kann verstehen, dass Sie das durch den Schock verdrängt haben. In Ihrem Beruf müssen Sie ja abgebrüht sein, aber dass Sie das so wegstecken, verwundert mich schon.«

Was meint sie jetzt? Was soll ich vergessen haben? Das Unglück erlebe ich in meinen Träumen immer wieder. Dutzende Tote hat der Aufstand gefordert, Wachleute wie Gefangene gleichermaßen. Allein bei dem Brand haben acht oder zehn ihr Leben verloren. Und sie redet von ‚vergessen‘!

Er schaute ihr ins Gesicht, suchte nach dem Sinn ihrer Worte. Eine Antwort bekam er nicht mehr. Während er noch in Gedanken war, hatte die Haberkorn das Thema gewechselt, und Valentina Nightingale plauderte mit ihr über ihren nächsten Roman.

»Der Arbeitstitel für das Manuskript lautet Vier Jahre Sommer. Wie ich nach meiner Lesung kurz erwähnte, geht es um eine problematische Romanze zwischen meiner Heldin und einer prominenten Person. Mehr erzähle ich nicht, denn dann könnte ich euch ja gleich die ganze Handlung verraten. Außerdem habe ich mich vertraglich zum Stillschweigen verpflichtet. Derzeit befindet sich das Manuskript im Lektorat, und weil meine Verlegerin so begeistert ist, will sie den Roman ins Französische übersetzen lassen. Auf der Leipziger Buchmesse im nächsten Jahr wird das Buch vorgestellt und danach auf dem Salon du Livre, der Pariser Buchmesse im Mai. So finden die Premieren beider Ausgaben kurz hintereinander statt. Im Sommer-Programm von EVI – meinem Verlag – findet sich mein Roman in bester Gesellschaft mit Werken von …«

Leberecht hatte aufgehorcht, aber das Gespräch zog ihn nicht in seinen Bann. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken von Valentinas seltsamer Bemerkung über seine Begnadigung zurück nach Südamerika, er sah sich in vergitterten Fluren zwischen wütenden, schreienden Männern in Gefängniskleidung und in Uniformen umher taumeln, benommen durch Lärm und Rauch. Wieder glaubte er, das Geschrei und das Prasseln der Flammen zu hören und den Qualm zu riechen, wie er seine Nase und seine Lungen überflutete, und zu spüren, wie er in seinen Augen brannte. Wieder beobachtete er sich, wie er in einem halb ausgebrannten Gefängnisbüro angekohlte Ausweise fand …

Ein Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah sich um. Der Barkeeper stellte die letzten gespülten Gläser ins Regal zurück, ein Angestellter der Stadtverwaltung verabschiedete Garderobenfrauen und Reinigungspersonal in den Feierabend. Mit seinen Begleiterinnen saß Leberecht allein an der Bar, ihr Gespräch plätscherte unverbindlich vor sich hin.

Als Valentina den Blick zur Uhr über dem Regal hob, erstarb ihr Lächeln. »O Gott, ich muss! Danke für eure Aufmerksamkeit und für das anregende Gespräch. Wegen der Detektiv­geschichten melde ich mich die Tage.« Schon rutschte sie von ihrem Barhocker. Vom Tresen griff sie sich Leberechts Visitenkarte. Er hatte sie ihr, als sie ihn nach einer gefragt hatte, geschmeichelt überreicht. Sie steckte die Karte in die Jacke ihres Hosenanzugs, warf sich die über die Schulter und wartete ein paar Schritte weiter darauf, dass auch Leberecht und Haberkorn ihre Gläser abstellten und ihr nachkämen.

Das Klingeln wiederholte sich. Der Saaldiener ist genauso ungeduldig wie Valentina! Im Hinausgehen erkannte er den Grund für ihre Eile: Vor der Stadthalle wartete mit laufendem Motor ein Taxi. Als Valentina an den Bordstein trat, schwang die hintere Tür auf. Im Schein der Innenbeleuchtung sah Leberecht den Fahrgast, einen Mittvierziger mit Halbglatze und Allerweltsgesicht. In einem Anflug von Eifersucht ballte er die Fäuste.

Die Schriftstellerin winkte ihm und seiner Vermieterin einen letzten Gruß zu.

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Wer ist Valentina Nightingale?

Er wusste es, schließlich räkelte sie sich vor ihm auf der Couch. Achtlos hingeworfen lag ihr eleganter Hosenanzug, in dem sie eben noch ihrem Publikum gegenübersaß, auf seinem Seidenteppich. Daneben bedeckte ihre Bluse ihre hochhackigen Schuhe und seine eigenen Treter nur zum Teil. Er selbst stand mit entblößtem Oberkörper halb über die Schönheit gebeugt. Immer noch betörte ihn das Parfum, dessen Duft nach Jasmin und Orangenblüten von ihrem Bralette in seiner Hand aufstieg, einem Nichts aus Seide und Spitzen. Die Nightingale, seine Eroberung für diese Nacht! Während ihre Rechte an seiner Gürtelschnalle nestelte, furchten die Finger ihrer linken Hand durch die Haare auf seiner Brust. Die Berührung verursachte ihm einen wohligen Schauer. Als die Gürtel­enden lose herabhingen, öffnete …

… er trunken vor Erwartung die Augen. Im Nu war der Schauer verflogen. Ungläubig blinzelte er sich in die Wirklichkeit zurück.

Fast liegend und versunken im Polster eines voluminösen Fernsehsessels versuchte er, sich zurechtzufinden. Im Vergleich zum luxuriösen Ambiente seines Traumes empfand er die nüchterne, abgenutzte Büroeinrichtung aus altersgebräuntem Holz als krassen Gegensatz:

Ihm gegenüber ein wuchtiger Aktenschrank mit geschlossener Rollladenblende, zu seiner Rechten ein Schreibtisch, so niedrig, dass er sich auf den Stuhl davor hätte kauern müssen. Dahinter begrenzte seinen Blick eine deckenhohe hölzerne Blende von Wand zu Wand, in der Mitte unterbrochen durch eine Türe, in deren Milchglasfüllung er eingeätzte Zeichen entzifferte, die er aber nicht sofort wiedererkannte:

 

thcerebeL flihttoG

 

Sein Blickfeld klarte umso mehr auf, je erfolgreicher er sich den Schlaf aus den Augen rieb. Vor dem zweiten und größeren Schreibtisch, den er endlich als seinen eigenen erkannte, schaukelte im breiten Chefsessel das genaue Gegenteil Valentinas, die Füße auf einem Aktenbock abgestützt.

»Was ist ein Nackenbeißer?« In übertriebener Rhetorik ließ die etwas füllige Anfangs­fünfzigerin im Hahnentrittkostüm ihre rechte Hand einen Viertelkreis beschreiben. »Als ich der Fragestellerin den Begriff erklärte, musste ich nicht etwa schmunzeln, denn jeder Autorin und jeder Leserin von Liebesromanen ist die Bedeutung geläufig. Nein, ich lachte ihr die Antwort lauthals entgegen. Anfangs irritiert und fast beleidigt schlich sie nach der Autorenlesung zu mir nach vorn an den Tisch, an dem ich mein Publikum mit Autogrammen beglückte. Als sie mir mit der Bitte, es zu signieren, ihr Buch vorlegte, beugte sie sich weit zu mir herab. Wohl zu weit, denn unvermittelt brach sich erotisches Knistern Bahn. Gemeinsam verließen wir als letzte den Saal.

Der Abstecher in die Bar dauerte nicht lange. Bald fanden wir uns auf meiner Couch wieder, wo ich ihr nach einem von uns beiden genossenen erotischen Rollenspiel eine andere Bedeutung des Wortes Nackenbeißer klarmachte. Noch in derselben Nacht entsorgte ich ihre blutleere Leiche. Hoffentlich hat mich niemand dabei beobachtet!«

Mit dem dumpfen Schlag, der typisch ist für das Zuschlagen eines gebundenen Buches, holte ihn die Frau im Schreibtischsessel endgültig ins Hier und Jetzt zurück. Im Halbdunkel fiel der lichte Fleck der Schreibtischlampe nicht nur auf das Buch in ihren Händen, sondern ließ auch ihr Gesicht erkennen. Lachfältchen um die Mundwinkel deuteten ebenso wie das Grau im offen getragenen Haar auf einen humorvollen, weltoffenen und selbst­bewussten Menschen hin. Nach der Heimkehr in die anonyme Wohn­anlage hatte die Haberkorn ihm auszugsweise aus Valentina Nightingales Buch vorgelesen und eben das letzte Kapitel beendet.

Gähnend und mit einem müde hingewedelten Winken beendeten sie ihre lange Literaturnacht und begaben sich zur Bettruhe. Gotthilf Leberecht in seinem Schlafzimmer nebenan, Ursula Haberkorn zwei Etagen höher.

 

 

Ende der Leseprobe